Michael Scheyer
Journalist | Filmemacher | Dozent
Michael Scheyer
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Arbeitsproben

Beim Barbier dürfen Männer noch Männer sein

14. Februar 2018 Reportage, Text
Beim Barbier dürfen Männer noch Männer sein

Noch einmal blicke ich mir selbst im Spiegel in die Augen, bevor mich Enes Genctürk mitsamt der Rückenlehne nach hinten klappt. Dann hält mir jemand zum ersten Mal in meinem Leben ein Messer an die Kehle. Knirschend schabt die frische Klinge die duftende Seife von der Haut an meinem Hals. Übrig bleibt mein Bart, gekürzt, gestutzt, in Form gebracht. Weil ich einen Bart habe, darf ich hier sein, im Barbershop, einem der letzten echten Refugien, wo Männer noch Männer sein dürfen.

„Meine Kunden sind 100 Prozent männlich“, sagt Genctürk. Wobei er weibliche Kunden nicht vom Service ausschließt. „Ein einziges Mal war eine Frau da“, erinnert sich der Bad Wurzacher Barbier, „die war nur zu Besuch da und hatte einen Kurzhaarschnitt“. Eben eine Männerfrisur. Frauenwünsche kann Genctürk nicht erfüllen. Und will es auch nicht. „Bei mir gibt es all das, was Männer sich wünschen.“ Und das hat eben zur Folge, dass seine Kundschaft männlich ist. Es geht nicht um Geschlechtertrennung, sondern darum, dass Frauen eher selten Vollbärte zu tragen pflegen.

Gleich nach mir ist Ahmet Tiktepe dran. Heute lässt er sich allerdings nur die Kopfhaare schneiden. Sein Bart muss erst wieder wachsen. „Es war ein Unfall. Ich bin mit dem Rasierer abgerutscht“, erzählt Tiktepe, „deshalb musste ich alles abrasieren. Das fand meine Frau aber gar nicht gut.“ Kein Bart ist für seine Frau keine Lösung. „Aber zu lange darf es auch nicht sein. Fünftagebart sag ich mal.“

Tiktepe, der Monteur bei einem Wohnmobilhersteller in Bad Waldsee ist, genießt seinen Termin im Barbershop auch deshalb, weil keine Frauen da sind. „Das macht einen riesigen Unterschied. Ich war mal mit meiner Frau beim Friseur. Nachdem ich fertig war, musste ich warten und warten und warten.“ Dann saß er da, schweigend, bis die Frauen fertig gequatscht hatten. „Hier kann ich auch mal die Sau raus lassen“, sagt er lachend. Und Genctürk steigt ein: „Das ist nun mal so, sobald Frauen da sind, sind wir keine Männer mehr.“

Die Hemmung, sprachliche Fesseln abzulegen, liegt förmlich in der Luft. Kein Wunder, Genctürks Schwester Elif Turan lehnt an der Tür. Ist eine Frau anwesend, reagieren die Männer verhalten. Später, nachdem Elif gegangen ist, werden sie spürbar auftauen. „Die Männer erzählen mir alles, wenn sie auf meinem Stuhl sitzen“, verrät Genctürk, „manchmal bin ich wie ein Psychologe“. Zum Beispiel dann, wenn es Redebedarf über Fasnetsaffären gibt.

Irgendwie klingt das alles wie beim Friseur. Obwohl Genctürk keiner ist. Der 29-Jährige hat einen Hochschulabschluss als Zerspanungstechniker. Für seinen Barbershop bekam er eine Ausnahmebewilligung von der Handwerkskammer. Barbier ist kein Lehrberuf. Genctürk fing bereits mit 13 Jahren an, seiner Verwandtschaft die Haare zu schneiden. Er bezeichnet es als seine Leidenschaft, der Laden sei Ausdruck seines Lebensstils.

Er hat den 50er-Jahre-Charme, an der Wand hängen Bilder von James Dean und Marilyn Monroe, aber auch Tupac Shakur. Genctürk liebt den Rockabilly-Stil, er selbst trägt die Arbeitskleidung eines in der Skaterszene bekannten amerikanischen Labels, eine perfekt geföhnte Tolle und natürlich einen kräftigen Bart. In Amerika war er noch nie.

Weil Männer wieder Bärte tragen, gibt es auch wieder mehr Läden, die sich hauptsächlich dem Bart widmen: Barbershops. Häufig, aus guter Tradition, sind die Inhaber Türken. Zum Barbershop gehen aber Männer aller Nationen und Berufe – ob Handwerker, Notare oder Ärzte. Mit allen Formen von Gesichtsbehaarung – ob Vollbart, Kinnbart oder Schnauzbart. Felix Huber zum Beispiel kommt extra aus Isny angefahren, um sich hier die Haare schneiden zu lassen. Normalerweise trägt er einen Dreitagebart. Heute ziert sein Gesicht nur ein kleiner Schnauzer. „Der Schnauzer ist mittlerweile ja auch wieder cool“, sagt Huber. Auch bei ihm war es ein Unfall mit dem Rasierer, der ihn eine Kotelette kostete. Deshalb gibt es auch bei ihm nur einen Haarschnitt.

Was schenken sie ihren Frauen eigentlich zum Valentinstag? „Von mir gibt es nichts“, sagt Felix, „meine Freundin mag den Valentinstag selbst nicht“. Hängt das also allein von der Frau ab? Gentlemen Genctürk wendet ein: „Ob es ein Geschenk gibt, entscheidet immer noch Mann, jedenfalls dann, wenn er den Mumm dazu hat.“ Wem’s nicht aufgefallen sein sollte: Seine Schwester ist nicht mehr da. Und dann lacht der Selfmadebarbier. „Also ich würd’ mich nicht trauen, ohne Blumen heimzukommen, selbst wenn ich die auf dem Friedhof klauen müsste.“ Ja, so mutig sind die Männer von heute, wenn sie unter sich sind.

Christian Pfiffner betritt den Barbershop. Nein, befinden die ersten drei Männer, Bärte sind nicht unbedingt ein Statussymbol. Aber ich finde: Irgendwie sind sie es eben doch. Vielleicht auch nur unter Männern. Denn ich ertappe mich bei der Feststellung, dass sein Bart größer ist als meiner. Und er glänzt.

Vermutlich liegt das daran, dass Pfiffner im Gegensatz zu mir alle fünf Wochen auf Genctürks Stuhl sitzt und gut 30 Euro im Monat für seine Bartpflege ausgibt, zum Beispiel für Bartöl, das seinen Bart so geschmeidig macht. Und er traut sich auch nach dem Fußballtraining, vor versammelter Mannschaft, den Bart zu kämmen. „Da gibt es schon mal Sprüche“, gibt er lachend zu. In seinem Bekanntenkreis sei er der einzige, der sich so ausgiebig um seinen Bart kümmere. Aber es lohne sich. Denn es falle den Menschen auf, ob man seinen Bart pflege oder nicht. „Es gibt auch Leute, die wollen meinen Bart anfassen“, sagt Pfiffner belustigt.

Die Pflege, darin stimmen Tiktepe, Huber und Pfiffner jedenfalls überein, und der Barbier sowieso, mache den alles entscheidenden Unterschied, warum Bärte mittlerweile auch im Berufsleben akzeptiert seien. Ein gepflegter Bart demonstriere schließlich Kultiviertheit. Und ein nachlässig wuchernder Bart habe nicht zwangsläufig etwas mit Männlichkeit zu tun. Eher im Gegenteil.

Die Bartpflege mag man getrost als Einstiegsdroge bezeichnen. Härterer Stoff sind dann die Augenbrauen, noch härter Nasen- und Ohrenhaare. Schwester Elif Turan beobachtet sogar, dass viele Männer längst mehr Zeit in Körperpflege investieren als die meisten Frauen.

Woran das liegen könnte? Eitelkeit der Männer? Emanzipierung der Frauen? Wer weiß. Heute, am Valentinstag, lohnt es nicht, sich darüber zu streiten.

Zum Schluss noch eine letzte Pointe: Der Barbershop befindet sich in der Herrenstraße.

Erschienen am 14. Februar 2018 in der Schwäbischen Zeitung.